Nr. 2—Spielen

Themenfeld und Textanlass: „Spielen“

Die Herausgeber

Wir spielen. Wir spielen mit Perspektiven, Formaten und Bezügen – und schreiben Reportagen und Essays über das, was sich zeigt, wenn wir Unordnung in vertraute „Texturen der Gegenwart“ bringen oder lieb gewonnene Spielanweisungen umschreiben. Nicht, um sie zu überschreiben, sondern um sie – in der Differenz – zum Sprechen zu bringen.

Es ist ein manchmal beunruhigendes und befremdliches Geflecht von Praktiken, Beziehungen und Bedeutungen, das da zum Vorschein kommt. Und manchmal ein erschreckend vertrautes. Die texturen-Reihe sucht das Besondere im Allgemeinen, das Unbekannte im Vertrauten. Das Thema „Spielen“, als Leitidee der zweiten Ausgabe, hilft bei der Spurensuche, ist Thema und Methode zugleich.

Wir dringen in fremde Spiele ein. Wir berichten aus der Perspektive der Macher und der Zuschauer, der Mit-Macher und Gegen-Spieler. Wir wandeln auf den Spuren von Chase Insteadman aus Jonathan Lethems Roman „Chronic City“, überfahren dabei aber aus Versehen seinen besten Freund Perkus Tooth mit einem Linienbus (Yet Another World, Benjamin Burger). Wir springen und taumeln zwischen „Uchronien“ – parallele Welten zu unsriger – hin und her, bis wir Spielleiter, Statisten und Mitspieler nicht mehr voneinander unterscheiden können (Wir würden hier sein, Anna Hentschel). Wir beobachten, wie sich Mindsets von Generationen in Spielweisen artikulieren, wie Spielerleb-nisse zum Kontrastmittel gesellschaftlicher Veränderungs(un)fähigkeit werden (Was verändert alles?, Fabian Arlt). Und schließlich treten wir an beim Game Slammen. Michael Metzger berichtet als „Slam-Sieger“, wie es sich anfühlt, spannende und zugleich plausible Geschichten live auf der Bühne durch spontane Interaktion ohne Drehbuch und Regisseur, aber auf Basis von Spielregeln des Erzählens, zu erfinden.

Wir suchen – als „Gegenlektüre“ – auch reale Schauplätze auf, die nach Spielregeln funktionieren. Nicht nach dem Motto, „alles sei doch Spiel“ – dann müssten wir das Spiel als Erkenntnisprinzip opfern. Wir nutzen das Spiel als Dechiffrierungsmuster, um gesellschaftliche Strukturen, soziale Beziehungen und kulturelle Praktiken unter die Lupe zu nehmen. Tizia Labahn findet ein Exempel in aktuellen Spielformen des Datens: Agenturen und Apps reorganisieren die Sehnsucht nach Liebe, Lust und Leidenschaft. Getarnt als Suchende beim „Speed Dating“ spielen wir mit beim Verheißungs -Theater der „Love Angels“, endlich den/die Richtige/n zu finden – und erwischen uns dabei, wie wir im Spiel der Erwartungen selbst aus der Rolle fallen. Andere solcher Lektüren machen Spielregeln sichtbar, an denen wir uns sonst nur stoßen, wenn wir uns schon „verspielt“ haben. So wie auf dem Ausländermeldeamt, wenn jemand auf die eigene Nummer an der Anzeigetafel wartet. Ein Spiel, das keine Gewinner kennt und Verlierer unsichtbar macht. Jedenfalls durch die Brille von Seraina Nyikos: Im Haus 17 sieht sie Menschen ganz buchstäblich durchs Raster fallen. Wir beobachten uns selbst an „SpielOrten“, die uns fremd sind und versuchen, die ungeschriebenen Regeln zu entziffern. Etwa, wenn wir über unsichtbare Schwellen stolpern – wie Konstantin Daniel Haensch Im Spiel einer Stadt. Da hilft nur, folgen wir dem Autor, auf einen anderen als den optischen Kanal umzuschalten und den Musikern zu lauschen. Ihr Spiel weist einen Weg, den wir später auf der Straßenkarte nicht mehr wiederfinden werden. Oder Alexander Stolle, der in den Spielotheken der Stadt zum ersten Mal so etwas wie Die Angst vorm Gewinnen zu spüren bekommt – und trotzdem spielt. Deshalb wollen Elena Dellasega und Thomas Düllo lieber nur zugucken (jedenfalls meistens). Sie erkennen im Spielzuschauer nicht nur den besseren „Nicht-gerne-Spieler“, sondern auch einen unterschätzten Theorieproduzenten. Erst Konfigurationen aus Spielverderbern, Spielehassern, Zuschauern und Theoretikern werden dem Vermögen des Spiels ganz gerecht – Geh hin und sieh. Dass sich Autoren und Rezensenten in einem Rollenspiel bewegen, wenn sie ihre Texte umschreiben und immer wieder erneut adressieren, erleben wir in dem literarisierten Vexierspiel Die Rezensentin – ein Rollenspiel von Cornelia Heering.

Spielen eröffnet neue Zugänge. Dieser Perspektive folgen die Essays im zweiten Teil des Bandes (Texte zum Thema). Borgen wir uns dazu den Songtext des Liedermachers Gisbert zu Knyphausen: „Wir brauchen einen neuen Anfang!“ – so lautet die, den Hörer endlich erlösende Antwort auf die quengelnde Frage „Wie soll es denn weitergehen?“. Der Songtitel lautet Grau, Grau, Grau aus dem Album Hurra! Hurra! So Nicht. Im Spiel können wir immer wieder neu anfangen, ohne das Alte gleich über Bord werfen zu müssen. Spielen ist ein Wahrnehmungsmodus „gegen das Grau“. Spielen gegen Kulturpessimismus. Spielen als Werkzeug, Vertrautes und Neues in Kollision zu bringen. So wie das Crossmapping im Kontextlabor, eine erstmals in diesem Band veröffentlichte Methode von Thomas Düllo, Konstantin Daniel Haensch und Daniela Kuka, die, in Anlehnung an das „Cross-mappen“ bei Elisabeth Bronfen, in einem Labor-Archivsystem zum Dekontextualisieren und Neukombinieren von Dingen, Theorien und Aktionen einlädt, um überraschende Fragestellungen, Ideen und Perspektiven zu erspielen. Spielen als Experiment. Legitimes „So Nicht“ und experimentelles „Vielleicht so, oder so?“ Freches „Warum nicht?“ und mutiges „Hurra! Hurra! – obwohl (wir noch nicht wissen, was kommt)!“ Spiel und Experiment zu einer neuen Form der Zukunftsforschung und -gestaltung zu verweben, versucht die von Daniela Kuka vorgestellte Methode Preenaction. Sie soll uns aus der Komfortzone der Gegenwart locken, indem wir Gesellschaft durch Störungen in Serie spielen, bis Texturen sichtbar werden, die Träger von zukunftsrelevantem Wissen sind.

Spielen kann sich auch gegen das Grau einer fantasiefeindlichen Kultur richten, uns Abwege, Umwege und Anderswege erlauben, die neue – auch politisch wirksame – Erfahrungen ermöglichen. So wie in Niklas Schrapes Text über eine frühe Computerspielentwicklerin, die alternative Artikulationsweisen des Selbst entdeckte und den Unterschied zum realen Geschlechter-Rollenspiel am eigenen Leib erfuhr: Dani Bunten wants to play. Spielen kann sich aber auch, genau umgekehrt, gegen das Grau durch ein Zuviel -auf-einmal wenden. Als Modelle können Spiele selektieren, filtern und vereinfachen – und so verborgene Muster sichtbar machen. So wie die „Strategem-Spiele“, die unter der Regie von Klaus Gasteier entstehen. Sie helfen, Manipulation zu erkennen und sich zu wehren. Gasteier schlägt Strategemification vor, einen spielerischen Modus, um Herrschaftswissen zugänglich zu machen.

Folglich: Wer Spiele macht und Spiele spielt, nimmt eine Haltung ein, das Vertraute anders zu sehen, es „umzuschreiben“, neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns zu bahnen. Spielen ist Arbeit am Zukunftsgedächtnis einer Gesellschaft. Und das ist durchaus methodisch gemeint. Denn Spielen hat Zukunft. Nicht im Sinne einer Erfolgsprognose. Der Praxis des Spiel(en)s ist Veränderung eingeschrieben. Das Spiel ist eine der ältesten und voraussetzungsärmsten Erkenntnistechniken – Tiere und Kinder erschließen sich die Welt spielend. Sie probieren sich aus, testen Grenzen, greifen über sie hinaus und erweitern Selbsterfahrung und Kompetenzen im Erfolg wie im Scheitern. Davon können wir lernen. Nicht zufällig richten Forschungs- und Innovationslabore „Spielzonen“ ein. Unternehmen beauftragen Agenturen, mit ihnen zu spielen. Kulturwissenschaftler, Epistemologen, Naturwissenschaftler und Philosophen borgen sich Spiel-Vokabeln, um den Umgang mit dem Unbekannten und Neuen zu beschreiben. Experimentieren sei Spielen – als Kunst wie als Wissenschaft. Die zweite Ausgabe der texturen stellt erstmals eine Auswahl von, im Umfeld der UdK/GWK entstandenen, spielbasierten Forschungs- und Entwurfs- Methoden vor: Crossmapping, Preenaction, Strategem-ification, Meta-Dating. Jeder Beitrag ist dabei auch ein Formatexperiment, das versucht, die Praxis des Spiels in Text zu übersetzen.

Eric Zimmerman rief 2013 das „ludische Zeitalter“ aus. Wir drucken das Manifesto for a ludic century in der englischen Original-Fassung. 13 Thesen machen Mut, der Autor inventarisiert Verspieltheiten der Kultur als Ressource für gesellschaftliche Veränderungen – mal ganz erfrischend ohne Verdummungs-Hypothese am Ende. Aber kein Spiel ohne Gegenspieler. Wir setzen das Manifest in Schwingung mit den zehn, nicht weniger überzeugenden, Aufstellungen zur Ethik des Spiels von Robert Pfaller: Die Verpflichtungen der gesteigerten Freude. Freiwilligkeit, einst distinktes Merkmal des Spiels, wird verdächtig. Und so wundert es nicht, dass wir den Blick auch auf jene richten, die ein gestörtes Verhältnis zum Spiel(en) haben. Wie Philosophen zum Beispiel, denn die spielen heimlich – so jedenfalls die These von Alexander Brödner. Er erörtert Kants Spielproblem. Die Theatermacher der Gegenwart spielen dagegen viel zu offensichtlich. „Spaß! Alles nur Spaß! Wir tun nur so!“ schreit es von den Bühnen postdramatischer Schauspielkunst. Hört doch endlich (damit) auf!, ruft Maik Priebe zurück. Spielt uns nicht vor, dass ihr spielt! Spielt einfach! Wo, wenn nicht auf der Bühne, können wir das? Auf der hyperreglementierten politischen Bühne Europas jedenfalls will Christian Blümelhuber in Erinnerung an die Zukunft als letzten Schachzug gegen die Spielfeindlichkeit bürokratischer Strukturen gleich ganze Länder – auch Deutschland – aufs Spiel setzen. Was 80 Millionen (Ex-)Bundesbürger dann zur nächsten Fußball WM machen? Diese Frage bleibt offen.

Ein „guter“ Spieler sein heißt auch: mal nicht mitspielen. Auch zuschauen können, wenn man sowieso nur Spielverderber ist. Dellasega und Düllo zufolge, können dabei ja sogar die Spielfanatiker etwas lernen. Deshalb verabschieden wir uns gleich zu Beginn der zweiten Ausgabe der texturen-Reihe von einem Phänomen, das uns das Spielen nur allzu ernst gemacht hat: „Gamification“. Wenn auch Gesundheitsvorsorge, Arbeit, politisches Engagement und Konsumhandlungen wie Spiele erlebt werden sollen, verschwindet das Potenzial, im Spiel Unterschiede zu den Gegebenheiten vorstellbar zu machen oder ihnen zumindest temporär zu entfliehen. Es wird Mittel zum Zweck, die eine Welt zu reproduzieren, die wir schon kennen. Mit anderen Worten: auch das Spielemachen braucht Spielregeln. Denn die Protagonisten in Timothée Ingen-Housz‘ Szenenstück Please, let me back in the box sind nur auf den ersten Blick Opfer der sogenannten „Skinner-Box“ – sie „spielen Gesellschaft“ in One act play on mice and men. Wir schließen ihr Spiel daher mit fünf einfachen Spielregeln zur Rettung des Spiels und für eine Gesellschaft, die das Spielen als Erkenntnistechnik und kulturelle Praxis beherrscht, ohne dabei von Scores, Rewards und Rankings gamifiziert zu werden (Counter-Gamification, Zwischenspiel der Herausgeber).

Die zweite Ausgabe der texturen ist nicht nur ein Buch über Situationen, Praktiken, Haltungen, Methoden und Energien des Spielens, sie lädt auch zu eigenen Gedankenspielen, Experimenten und spielerischer Kreation ein. Auf den Seiten, die besonders gekennzeichnet sind, findet der Leser von den Reportagen (Texturen des Spielens) und Essays (Texte zum Thema) des Bandes inspirierte oder sie flankierende „Zwischenspiele“. Sie sind Poesie oder Spielanweisung, manche sind beides zugleich. Sie sind Spielangebote, die man nicht einfach „mitspielen“ kann, die nicht „nachspielen“, was wir schon kennen, sondern uns zu neuen Kreuzungen, zu Standpunktwechseln, Realexperimenten, Antizipationen und Transferleistungen anregen. So wie das Theoriestück aus dem Kontextlabor von Konstantin Daniel Haensch, das den methodischen Beitrag zum Crossmapping flankiert. Oder die Entwurfsregeln neuer Welten in Man’s Lewd Scent – ein Mikro-Spiel auf Makro-Ebene, das Frank Lantz, Direktor des New York University GameCenter, als Kommentar auf das Manifest von Eric Zimmerman verfasst hat. Eigene Welten entwerfen kann man, wenn man sich nicht so schnell in Widersprüche verwickelt, auch mit dem Spiel 42: a nomic experiment, einer experimentellen, selbstreferenziellen Spielanleitung zur Bildung von Communities von Dominikus Mucha, angelehnt an das „Nomic Prinzip“ von Peter Suber aus dem Jahr 1982.

Die ISO DIN 5011 von Christian Karaschéwitz und Laura Mankel regt uns an, unsere Rolle als Zuhörer zu hinterfragen und die Spielregeln der Aufmerksamkeitsökonomie einmal umzudrehen. Ob Parodie oder kulturelle Innovation, möge jeder für sich entscheiden. Auch, ob er sich beim nächsten Streit von den Prinzipien des Meta-Datings – Spiele aus Antizipation von Klaus Gasteier und Daniela Kuka inspirieren lassen mag. Dass Kommunikation ein Spiel sei, ist ja als Metapher geläufig – doch man möge es doch einmal wörtlich nehmen und seine Reaktionen bei der nächsten Polizeikontrolle wirklich Zug um Zug den Spielregeln eines Chatbots aus Papier überlassen. Auch auf Mustern der Sprache, aber auf jenen des Erzählens, beruht Alexej Bormatenkows Spiel Writers’ Room, das Grundlage für den in diesem Band reportierten „Game Slam“ war und dessen Regelwerk die kollaborative Produktion von Geschichten anregt.

Und auf dem Weg zur Methode Preenaction entstanden flankierend zu Kukas Beitrag zwei komplementäre Zwischenspiele: Erst als desillusionierender Schlagabtausch, als Gegenspiel, dann als Regieanweisung für ein Mitspiel erzählen sie vom Widerstand des Spiels gegen seine Dienstbarkeit als Methode – formulieren ein mögliches Happy End, na klar, in Form von Spielregeln.

Und jetzt: Spielen, nicht Mitspielen!

Auszug aus dem Band, S. 19-35

texturen Nr. 2—Spielen

Mit Beiträgen von: Benjamin Burger, Konstantin Daniel Haensch, Michael Metzger, Seraina Nyikos, Fabian Arlt, Anna Hentschel, Cornelia Heering, Tizia Labahn, Alexander Stolle, Elena Dellasega, Thomas Düllo, Niklas Schrape, Alexander Brödner, Maik Priebe, Timothée Ingen-Housz, Klaus Gasteier, Daniela Kuka, Christian Blümelhuber, Eric Zimmerman und Robert Pfaller

Die Bildstrecke des Bandes wurde fotografiert von Pilar Schacher.

Herausgeber: Thomas Düllo, Konstantin Daniel Haensch, Daniela Kuka

Verlag der Universität der Künste Berlin

ISBN: 978-3-89462-264-0

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