Nr. 1—Wohnen
Einleitend zu den ersten Texturen
Die Herausgeber
Es ist immer etwas Besonderes, wenn etwas zur Welt kommt. Das Adjektiv „neu“ zu vermeiden empfiehlt sich, was heißt schon „neu“? Etwas kommt zur Welt und kommt damit aus der Welt. Das Thema „Wohnen“ ist nun durchaus gefährlicher und unberechenbarer, als es erst mal den Anschein hat. Zwischen deutscher Gemütlichkeit und der Trivialität des Billig-Dispositivs, zwischen der Geschmacksindustrie, auch gerne „auf Hochglanz“ und trotzdem in diesem Asien produziert (von dem man nur so hört) und den Inszenierungen der internationalen Bohème auf Büttenpapier, analog fotografiert, eingescannt und global gebloggt, eröffnet sich uns im Alltäglichen des Wohnens ein unbekanntes Territorium.
Die Autoren haben sich in dieses Gebiet getraut, sich den Gefahren des Wohnens gestellt, oft getrotzt, so viel lässt sich wohl sagen. Sie haben das zutiefst Menschliche im Wohnen gesucht: Das Hässliche und Stinkende, Schöne und Triumphierende, manchmal Tragische und Traurige. Sie haben den Narrationen nachgespürt und dabei nie vergessen, selbst Teil zu sein von dem, was das Material der Untersuchung ist; sowieso Teil der Kultur zu sein, in die sie hineingeworfen wurden, vor ein bisschen mehr als zwanzig Jahren. Damit schreiben Sie in einer Traditionslinie zu dem Reportagenstil, der Mitte der 1960er Jahre in New York entsteht: Dem New Journalism, mit seinen Protagonisten Hunter S. Thompson, Norman Mailer, Truman Capote oder Gay Talese, Lester Bangs und anderen. Die Aktualisierung ergibt sich zwangsläufig aus den Herausforderungen der zweiten Dekade dieses jungen Jahrtausends und der Persönlichkeit der Autoren. Sie sagen mit ihrem Schreiben nichts anderes, als das, was Verliebte an der großen Buche im Park als Einritzung hinterlassen: Wir waren da, wir haben das so gefühlt in diesem Moment. Ein augenblickliches Zeugnis, eine Gegenwartsvermessung anhand eines alltäglichen Gegenstandes. Es entstehen Texturen von Wirklichkeiten, die übereinander liegen, sich mischen und ständig in Bewegung bleiben. Es entstehen Texte für einen gemischten Leserkreis, der neugierig auf das Dichte, Glatte und Brüchige im Alltäglichen ist – und auf den textlich festgehaltenen Moment.
Im zweiten Teil der texturen finden sich Texte, die das Thema „Wohnen“ von einer anderen Seite beleuchten. Sie sind die Flanke der Reportagen. Wir glauben in dieser Zweiteilung eine sich ergänzende und produktiv irritierende Kombination gefunden zu haben. Sie soll das Programm aller nachfolgenden texturen bilden.
Themenfeld und Textanlass: „Wohnen“
Thomas Düllo
Wie wir heute gewohnt? Zwischen Fortsetzung des 19. Jahrhunderts, seiner Bürgerlichkeit, seinem horror vakui, und der Normalisierung von Wohnstilen und -praktiken der Bauhaus-Moderne durch Ikea? Dazwischen Retro, von den frühen Sixties bis zu den späten Seventies, und so etwas wie ein globaler Metropolen-Stil, der sich besonders in Berlin zeigt, aber auch in London, São Paulo, New York oder Tokio, wenn man Foto-Reportagen vonapartamento glauben darf?
Es verändert sich also etwas, aber langsam, denn Wohnen ist strukturkonservativ, wie nicht nur die von der Wüstenrot-Stiftung in Auftrag gegebene Geschichte des Wohnens für den Zeitraum für 1945 bis heute resümiert: „Betrachtet man das Wohnen der Gegenwart über einen längeren Zeitraum hinweg, so scheint es eine im Vergleich zur Wandlungsgeschwindigkeit der Gesellschaft eigenartige Beharrungskraft und Konstanz zu besitzen, wie sie sonst nur für traditionell ausgerichtete Kulturen typisch ist. Schaut man sich die Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren an, dann haben sich zwar die Möbelstile, die jeweils als modern galten, geändert, und die Wohnungen sind größer geworden, aber die Wohnfunktionen – sich entspannen, kommunizieren, essen, schlafen – sind gleich geblieben. Zwar gibt es ungewöhnliche Grundrisslösungen, von der Norm abweichende Zuschnitte, Luxus vielfältiger Art, aber auf die Breite gesehen, ist alles beim Alten geblieben.“
Vor dem Hintergrund dieser Doppelbeobachtung von Beharrlichkeit und Wandel haben wir, Studenten und Dozenten des Studiengangs „Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation“, das Thema „Wohnen“ zum Textanlass genommen, um es unter drei Blickwinkeln zu beobachten und zu beschreiben:
- Wohnen als unbekannte Nahwelt
- Möglichkeiten einer kleinen Lebensweltethnografie
- das Bizarre und Deviante im Bekannten
Der Schreibauftrag beinhalte fünf Prozessphasen: 1. Beobachten, 2. Beschreiben, 3. Kontextualisieren (Zeichen, Diskurse, Co-des), 4. Texten (Wohnreportage ca. fünf Seiten), 5. Präsentieren. Als Textsorte wurde sowohl vom Gestus im Umgang mit dem Material als auch stilistisch eine gewisse Nähe gesucht zum New Journalism beziehungsweise zum literarischen Journalismus eines Hunter S. Thompson, Tom Wolfe, Gay Talese und jüngerer Wiedergänger wie Moritz von Uslar, Jeff Dyer, John Jeremiah Sullivan, David Foster Wallace oder Benjamin von Stuckrad-Barre. Dichte Beschreibungen plus Essayismus, Genauigkeit plus Subjektivität, Literarisierung plus Journalismus – das war gewünscht, zumindest erlaubt, aber nicht normativ vorgegeben. Eher eine Orientierung, keine Aufforderung zu stilistischem Copy and Paste.
Entstanden sind dabei lesens- und bemerkenswerte Miniaturen, Mischtexte aus Reportage und Kurzessay, denen hier nicht vorgegriffen werden soll. In der Summe durchmustern sie jedenfalls gegenwärtiges Wohnen und Orientierungsversuche – gleichzeitige wie ungleichzeitige.
Dass die Dreifachkombination aus journalistisch-reportagehaftem Schreiben mit narrativen Inszenierungsformen und essayistisch-diskursiver Reflexion beim Thema „Wohnen“ nicht nur für kleinere und mittlere Textformate Verwendung findet, zeigen auch die großen Wohnromane der letzten Jahrzehnte. Hier ist eine ganz bestimmte Form des Wissens der Literatur entstanden. Eine Bühne des Wissens, das in literarisiert-reflexiver Weise Formen und Irritationen des Wohnens artikuliert, veranschaulicht und vermisst, wie man es so intensiv sonst nicht antrifft. Genannt seien in umgekehrter Reihenfolge ihres Erscheinens folgende Wohntexte: Kevin Vennemanns gattungsloser Text Sunset Boulevard– Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles (2012) über die Art und Weise, wie die amerikanische Archtitekturfotografie und Hollywoods Film Noir die Avantgarde-Architektur der Moderne zu Tode fotografiert und ideologisch gekillt hat – die Verbrecher leben in Hollywoods Krimis immer in modernsten Häusern! Aus anderer Richtung weht der Wind in Leif Randts kleinem RomanSchimmernder Dunst über Coby County (2011), der zu Recht einer Variante neuerer Popliteratur zugerechnet wird, die ja wie der New Journalism aus dem Geiste des Popjournalismus (Thompson, Wolfe) entstanden war. Coby County ist ein utopischer Ort der Sorgenfreiheit und eine ewige Wellnesszone, die ganz zart ätzend vom Erzähler ausgehöhlt wird. Mark Z. Danielewskis hypertextartiger Roman House of Leaves (2000; dt. Das Haus 2009) bewegt sich noch stärker auf dystopischem Terrain. Hier wird ein Haus mit einem irren Eigenleben verzeichnet, als sei es direkt aus einer Hornbach-Werbung entsprungen, wo sich der Eigensinn der Dingwelt gegen seine Nutzer wendet.
Als Co-Lektüre zu Vennemanns Architektur-Roman bieten sich die Immobilien-Romane von Richard Ford an, wenn man an zwei Erkenntnissen interessiert ist: Nämlich erstens daran, wie die Immobilienkrise und die Rezession der letzten Jahre (in den U.S.A. mit globaler Strahlkraft) entstanden und durch Betroffene auf eine undramatische, also zunächst ganz normale Weise, erfahren und wahrgenommen worden ist. Zweitens wenn man daran interessiert ist, wie das mentale Programm von durchschnittlichen und ehrwürdigen Hauskäufern tickt und ebenso wie dasjenige Programm eines ebenfalls durchaus ehrwürdigen Maklers. In Richard Fords Romanen Independance Day (1995; dt. Unabhängigkeitstag 1995) und The Lay of the Land (2006; dt. Die Lage des Landes 2007) macht man diese Quasi-Erfahrung auf der Basis eines sehr genau recherchierten Immobilienmarktes und dichter Beschreibungen der Innenwelten der betroffenen Akteure sowie der Rezessionsentwicklung. Auf sehr realistische und reflektierte, auch psychologisch stimmige Weise, ohne jemals den Eindruck zu bekommen, man lese einen Thesenroman.
Am avanciertesten und anspruchsvollsten, auch in formaler Hinsicht, hat das Thema des Wohnens Georges Perec in seinem Roman La Vie mode D’emploi gestaltet (1978; dt. Leben. Gebrauchsanweisung 1982). Zu Recht hat der mit Perec befreundete Romancier Italo Calvino in seinen Sechs Vorschlägen für das nächste Jahrtausend von einem „Modell vom Netz der Möglichkeiten“ gesprochen, das in Perecs Roman entwickelt werde. Dieser „Hyperroman“ ist angelegt wie ein Puzzle in Inhalt und Form, bei dem zugleich „der Ausschnitt eines typischen Pariser Mietshauses“ gewählt wird, „in dem die gesamte Handlung abläuft, ein Kapitel pro Zimmer, fünf Etagen mit Wohnungen, deren Möbel und Einrichtungsgegenstände einzeln aufgezählt werden und deren Besitzerwechsel wir ebenso detailliert erfahren wie die Lebensgeschichten ihrer Bewohner samt Vorfahren
und Nachkommen.“ Diese Verschränkung von Vertikale und Horizontale wird in eine Ordnungsdarstellung gebracht, die stets Spiel bleibt und den Zufall zulässt. So werden Individualisierung, Traditionsspuren und Kollektivierungsverarbeitungen als Puzzle und Katalog darstellbar.
Ähnliches, freilich in kleiner Form und weniger ambitioniert, wird man auch in den hier versammelten Texten finden – rund dreißig Jahre später, normalisiert und auch ironisiert.
Auszüge aus dem Band, S. 9-25
texturen Nr. 1—Wohnen
Mit Beiträgen von: Thomas Düllo, Seraina Nyikos, Anja Mück, Konstantin Daniel Haensch, Leonard Jung, Justus Hoever, Tobias Reisch, Elisabeth Pieper, Florian Hadler, Antonia Märzhäuser, Siegfried Zielinski und Daniela Kuka
Die Bildstrecke des Bandes wurde fotografiert von Gilbert Bachour.
Herausgeber: Thomas Düllo, Konstantin Daniel Haensch
Verlag der Universität der Künste Berlin
ISBN: 978-3-89462-237-4