Nr. 4—Dingen

Einleitend zu den vierten Texturen

Die Herausgeber

In diesem buch wenden wir uns den Dingen zu. Und das in der leisen Hoffnung, dass sie uns in Retour ein wenig ihrer Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Die Vorgängerbände der Buchreihe texturen handeln von den Großthemen des Wohnens (2013), Spielens (2015) und Essens (2016). Allesamt erst einmal Praktiken, Tätigkeiten und Seinsformen, die man unterschiedlichen Organismen unterstellen würde; darunter auch menschlichen. Im vierten Band kommen die texturen nun zu sich selbst: Die Bühne gehört den Dingen und all den Umständen, in denen sie existieren, sind, wirken, agieren, manches erzählen, anderes verschweigen.

Die anthropologischen Konstanten des Wohnens, Spielens, Essen sind ohne Dinge (also: Wohndinge, Spieldinge und Essensdinge) gar nicht vorstellbar. Ohne sie bliebe nur eine tote Wüste – eine Wüste ist auch ein Ding –, also wahrscheinlich nicht einmal das. Es war immer Anliegen der texturen, die Materialität der Dinge und die seltsamen Ströme aus Interaktionen textlich einzufangen und für einen Moment festzuhalten. Die Sensibilität und die Awareness für die materiellen Dinge und ihre immateriellen Tentakeln, die aus den Dingen in die Welt lappen, schlängelnd sie in dieser Welt halten und durch sie die Welt erst konstruieren, bringen uns zu den zentralen Fragen dieses Bandes: Was steckt in den Dingen? In welchen Beziehungen stehen die Dinge? Was kann alles „Ding“ sein? Und: Was erzählen Dinge (auch unter sich, wenn man sie in Ruhe lässt)?

Der vierte Band trägt nun die vielleicht etwas seltsam anmutende Bezeichnung Dingen. Die Entscheidung für diesen Titel wurde aufgrund der Tatsache getroffen, dass es kein dezidiertes und reserviertes Wort für die Seins-, Existenz- und Handlungsweisen der Dinge sowie die Potenziale ihrer Beziehungen gibt. Vielleicht ist es auch zu viel erwartet, dass diese Leistung von einem Wort erbracht werden könnte. Sei es drum; spielen wir kurz einmal die begrifflichen Optionen durch, die auf unserem redaktionellen Tableau für die Benennung dieses vierten Bandes versammelt waren: In Bezug auf das, was Dinge sind und tun, könnte man das „Sein“, „Tun“ und „Existieren“ oder gar „Machen“ und „Agieren“ betrachten und die texturen dann folglich genau so benennen. Diese vorranging ontologisch- oder Agency-orientierten Begriffe könnten indes auch auf menschliche Entitäten bezogen werden und disqualifizieren sich daher als pointierte Schlagwörter eines Buches über Materialität, welches zwischen den Ökonomien der Aufmerksamkeit, des Buchmarktes und des physisch begrenzten Platzes auf dem Buchcover abwägen muss. Aus letzterem Grund fiel auch die Variante texturen Nr. 4 – Materialisieren durch. 

Dieses sprachliche und damit auch das Denken betreffende Defizit einer fehlenden Begrifflichkeit könnte für Martin Heidegger ein Anlass gewesen sein, durch die Technik der Verbalableitung eines Substantives den Dingen ihre seiende, existierende Qualität zuzugestehen. Aus bloßen Dingen wurde sein berühmtes „Zeug“, und so musste – wohl unvermeidlich für den, auf die ländliche, „altdeutsche“ Kultur fixierten Heidegger – der berühmte „Krug“, ja, „krugen“ (vgl. Heidegger 1954; Hahn 2014: 127; Deckner 2016). Eine Selektion, auch von Dingen, ist nicht unschuldig. Im Jahr 1954 hätte auch schon der Kinematograph kinematographieren, das Radio radioieren oder das Flugzeug flugzeugieren können. Auch die ersten digitalen Universalrechner waren schon erfunden. Eine Zuwendung des Philosophen auf diese Dinge und Heideggers Theorie wäre eine andere gewesen.1 Unbestritten ist der Einfluss der Hinwendung Heideggers zu den Dingen auf die Philosophie, Medientheorie, Kulturwissenschaften und auch, wie man in verschiedenen Beiträgen lesen können wird, auf dieses Buch. In manchen dieser Beiträge schwingt dann auch die alte Bedeutung des Verbs ‚dingen‘, „erledigen“, „einstellen“, „engagieren“ – auch für ein Verbrechen – mit. 

Gewisse Fächer und Disziplinen haben von Haus aus mit den Dingen zu tun: Die Archäologie ist besessen von allen möglichen Dingen anderer Zeiten, die in tiefen Erdschichten schlummern und auf ihre Entdeckung warten. Sie übergibt ihre Funde aus der Erde, dem Stein und dem Wasser dann gesäubert, geordnet und beschriftet – wenn sie mit den Dingen fertig ist – angrenzenden Spezialdisziplinen, wie der Geschichtsschreibung oder der Anthropologie, die mit den altertümlichen Objekten dann weiterarbeiten. Und die traditionelle Ethnologie beobachtet und beschreibt fremdartige Dinge aus genauso fremdartigen Kontexten. All diese Wissenschaften sind dingfixiert, doch in ihren Hauptströmungen eher an anthropologischen Fragestellungen und Perspektiven auf die Dinge interessiert. Dennoch werden diese reichen ding-wissenschaftlichen Traditionen bei Forscherinnen und Forschern, die neu auf die Dinge blicken, leicht übersehen. Eher dominieren die geisteswissenschaftlichen Beiträge, die eine der Grundlagen des sogenannten material turn gelegt haben: von Karl Marx‘ Warenfetisch, über die Kulturstudien der Alltagsgegenstände der frühen Cultural Studies zeichnet sich eine Linie bis hin zu gewissen Schriften des Strukturalismus (wie diejenigen von Jean Baudrillard). Den wohl einflussreichsten und radikalsten Beitrag für den material turn lieferte Bruno Latour mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), welche eine soziologische Theorie für die Neuordnung der Relationen von Dingen und Menschen vorgeschlagen hat. Eine kleine Ordnung der von Latour initiierten Neuperspektivierung auf die Dinge und Fragen der Materialität sei in dieser kurzen Einleitung versucht. 

Fangen wir bei der Neuperspektivierung der Materialitätsfrage an. Als diese ihren Weg von Latours Wissenschaftsgeschichte und -forschung aus in verschiedene Disziplinen machte, musste sie sich erst mal eines Missverständnisses erwehren, hatte man doch bis ans Ende des 20. Jahrhunderts unter Materialismus entweder eine marxistisch-sozialistische Ideologie(-kritik) oder im kulturellen Alltagsdiskurs so etwas wie einen konsumistischen, an materiellen Bereicherungen orientierten Lebensstil verstanden – vom Warenfetisch des besinnungslosen Nachkriegswirtschaftens bis zum Hedonismus der 80er und 90er Jahre vor allem von Jugendlichen zwischen 12 und 50 Jahren. Wie konnte da so etwas wie ein neuer Materialismus oder ein Zurück zu den Dingen kein Anti-Humanismus sein? 

Aber das Gegenteil war intendiert. Latour und die ihm Folgenden unternehmen seit dem Jahrtausendwechsel eine Symmetrische Anthropologie (Latour 2008), die die menschliche Handlungsallmacht eindämmt und die Frage, wer denn handele, so beantwortet, dass Menschen und Dinge auf Augenhöhe agieren: als Ensembles, als Kollektive, als Netzwerke. Diese Begrenzung menschlicher Allmachtsvorstellung macht aus dem Neumaterialismus einen neuen Humanismus, eine Blickerweiterung auf den ganzen Kontext des Handelns und seine bestimmenden Faktoren. Wenn seit ein paar Jahren die umstrittene Denkfigur des Anthropozäns die Runde macht, ist dies eine ähnliche Ausweitung der Konfliktzone, unterfüttert von einem Gestus der Selbstkritik und der Verantwortung unseren Tuns und unserer Entscheidungen. Donna Haraways Chtulhuzän und dessen Credo, „sich verwandt machen“ (Haraway 2018: 137 ff.), variiert diesen Gedanken ebenso wie Latours letztes, ganz großes Ding: das Terrestrische (Latour 2018: 49 ff.). Es handelt sich um Analysen und Überlegungen, die aus einem humanistischen Impuls kommen – minus „Gutmenschentum“, minus Romantik, minus Naivität, minus Selbsterhöhung von menschlicher Allfähigkeit. Es ist ein bisschen wie beim Transhumanismus. Auch hier wäre zu unterschieden zwischen der Fortschreibung eines naiven und womöglich gefährlichen Technikenthusiasmus gegenüber Robotik, Virtual Reality, Künstlicher Intelligenz u.a.m. und einer verantwortlichen Utopie sowie einem geopolitisch-kritisch gemünzten, aber lösungsorientierten Futurismus (vgl. Pelch 2017). 

Jedenfalls aktivieren der neue Materialismus oder die neuen Ding- und Objekttheorien und -analysen jenseits aller skizzierten Missverständnisse mit Fragen nach der Dinglichkeit auch die Erneuerung der alten Frage: Was ist der Mensch?. Dies vollzieht sich durch eine Umschreibung: denn die Antwort wird nicht gesucht in diesem Was?, sondern in einem Wo?. Aus einer essentialistischen Frage wird eine Verortungsfrage. Der Mensch, dieses Wesen, das Welt erzeugt nur über Mittel, über Indirektheiten und Zwischenschaltungen wie Sprache, Werkzeuge, Medien, Denkdinge etc., ist nur existent durch Zwischenwelten (Eibl 2009; Düllo 2017). Deshalb lautet die mögliche Antwort auf die Fragen vom Typus „Wo steht das Ich?“ oder „Wo bildet es sich?“ nicht nur: in der Sprache, im Verkehr mit Anderen – das sicherlich –, sondern auch: das Ich bildet sich nicht weniger oder mindestens genauso im Zwischen. Dazu zwei Referenzen, vom Wissenschaftsforscher Bruno Latour und vom Jazzmusiker Kamasi Washington. Lassen wir Latour den Vortritt: Er verortet den Menschen im Crossover, also im Dazwischen und in der Überkreuzung von sozialen und nicht-menschlichen, sprich: Ding-Beziehungen. So entsteht ein soziotechnischer Austausch, eine Hybridbildung, und genau in ihr verortet Latour den Menschen und reißt somit die Opposition von Subjekt und Objekt nieder: 

Selbst die menschliche Gestalt, unser Körper, ist weitgehend aus soziotechnischen Aushandlungen und Artefakten hervorgegangen. Wer Mensch und Technik als polare Gegensätze denkt, wünscht in Wirklichkeit das Menschliche weg: Wir sind soziotechnische Tiere, jede Interaktion ist soziotechnisch. Nie sind wir beschränkt auf soziale Bande, und nie begegnen wir reinen Objekten.

Bruno Latour 2000: 262

Folglich verortet Latour „[…] uns Menschen dort, wohin wir gehören – […] im Crossover, in der Artikulation, im Vermögen, zwischen Mittlern zu vermitteln. […] Objektivität und Subjektivität stehen einander nicht gegenüber, sie wachsen zusammen, und zwar irreversibel.“ (Ebd.: 263) Zweite Referenz, nun als Verortung des Ichs innerhalb ästhetisch-kreativer Handlungen und Wirkungen: Nach Veröffentlichung seines Albums Heaven & Earth (2018) umschreibt der neue Jazz-Gigant Kamasi Washington den Titel seiner Platte als eine Verortung: „Zwischen meiner Realität und meiner Imagination ist ein Raum – das bin ich“, und genau das materialisiert sich in seiner Musik (vgl. Kedves 2018: 16).

Nun noch die versprochene kleine Ordnung des Neumaterialismus oder der Material Studies sowie ein paar Notationsvorschläge. Verkürzt ließen sich für einen ersten Zugang zu diesem Thema drei Sichtweisen unterscheiden. (1) Der Blick auf die Agency der (in der Regel dienlichen) Dinge und auf die Kollektivbildung aus Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Diese Ensemblebildung und der Austauschprozess zwischen menschlichen und dinglichen Akteuren sind längst berühmt geworden unter dem Titel „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) von Latour. Eine der jüngeren Ableger und Variationen ist die „Akteur-Medien-Theorie“ (AMT). (2) Als zweite Position ließe sich – davon abgrenzend – die These vom Eigensinn der (merkwürdigen und undienlich werdenden) Dinge identifizieren. Vertreter für diese Perspektive sind Hans Peter Hahn, aber auch viele Künstler, Filmemacher oder Literaten, die sich dem Opaken und der Unverfügbarkeit der Dinge widmen, aber auch Positionen, die Fragen des Magischen und des Animismus antreiben. Mit Bill Brown (2001) kann man behaupten, in dieser Perspektive gehe es weniger um Objekte, die ein Handlungsskript besitzen und stark kodifiziert sind, als eben um Dinge, die nicht so sehr kodifiziert sind und damit in ihrer Dinglichkeit eine Epistemik der Dinge (Hahn 2011: 107) wachrufen. (3) Eine dezidiert philosophische und neo-ontologische Position sei als dritte Perspektive genannt: die Object-orientated Ontology (OOO) einerseits und der spekulative Realismus andererseits – mit Namen unter anderem wie Graham Harman, Markus Gabriel, Armen Avanessian.

Und noch eine weitere Orientierungshilfe wollen wir vorschlagen. Wir folgen darin einer Anregung und erfolgreichen Notationspraxis unseres Kollegen in der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, Christian Blümelhuber (Autor in texturen Nr. 2 — Spielen) – nämlich in der dezenten Verwendung des notierenden Formkalküls von George Spencer Brown. Mit dieser Notation lassen sich folgende Kerngedanken der Material Studies und Ding-Theorie ins Bild setzen: 

Kombination aus Fakt (fait) und Fetisch (fétiche). Wir sind alle Faitischisten:

Ding oder Objekt? Wie unterscheidbar=

Zu der Methode: (1) Es geht um Unterscheidungen („Draw a distinction“, sagt Spencer Brown). (2) Die Notation bezeichnet aufeinander verweisende Zustände in bestimmten Kontexten. (3) Notiert werden die Einheit der Differenz und die Wiedereinführung des Unterschiedenen (re-entry) mittels der umgreifenden Linie mit dem kleinen Häkchen.

Und so steht dieses Buch erklärtermaßen im Kontext dieses sogenannten material turns der Geistes- und Kulturwissenschaften und seiner intellektuellen Wegbereiter. Dass wir Hans Peter Hahn für einen Beitrag gewinnen konnten, freut uns besonders. Unsere Dinge dingen in den Texten der Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Lilly Elaine Wolter schreibt über das Fremdsein in Ghana, Konstantin Daniel Haensch über ein gestrandetes Schiff in Hong Kong. Marie Kublik beschreibt zwölf Minuten in der Sauna, Maria Kustikova die Dingwerdung von Pjotr Iwanowitsch und Narges Derakhshan einen blinden Stock in Teheran. Christiane Klose schreibt über acht Dinge, Paul Angermeyer über ein Auswärtsspiel des 1. FC Köln, und Daniela Kuka besucht ein Museum. 

Im zweiten Teil des Bandes schreibt Lena Fiedler über Halden im Ruhrpott, Alexander Katzmann eine Geschichte der Blechdose, und Alexandra Ranner porträtiert seltsame architektonische Gestalten. Kathrin Peters schreibt über Besteck und Gender, Thomas Düllo über Betonmonster aus Buenos Aires, Armin Chodzinski über diese und jene Dinge. Timothée Ingen-Housz über schleimige Blobs und Hans-Peter Hahn über sein Wohnzimmer.

Berlin im Winter 2018

Auszug aus dem Band, S. 13-23

texturen Nr. 4—Dingen

Mit Beiträgen von: Lilly Elaine Wolter, Konstantin Daniel Haensch, Marie Kublik, Narges Derakhshan, Maria Kustikova, Paul Angermeyer, Christina Klose, Lena Fiedler, Thomas Düllo, Kathrin Peters, Alexander Katzmann, Alexandra Ranner, Armin Chodzinski und Hans Peter Hahn

Die Bildstrecke des Bandes wurde fotografiert von Lia Kalka.

Herausgeber: Thomas Düllo, Konstantin Daniel Haensch

Verlag der Universität der Künste Berlin

ISBN: 978-3-89462-312-8

Band bestellen

Back

This is a unique website which will require a more modern browser to work!

Please upgrade today!

Share