Nr. 3—Essen

Einleitend zu den dritten texturen

Die Herausgeber

Die Metapher der „Textur“, die für dieses Periodikum eine große Bedeutung hat, kann viele Muster freilegen und in verschiedenen Feldern verwendet werden. Der Begriff stammt vom lateinischen textura – „Gewebe“. Er kann „Gewebe“ von Stoffen, von Musiken, von Programmen, von Räumen, von Kulturen beschreiben. In dieser Ausgabe geht es nun um solche Texturen des Essens – im erweiterten Sinn.

Bei der organoleptischen Prüfung von Wein sprechen Fachleute von „Textur“, um zu ver-texten, was sich vor, während und nach dem Genuss des Weins Sensationelles oder Empörendes abspielen kann. Die Textur des Weins wird durch Attribute näher bestimmt: dicht, schmelzig, tiefgründig. Feinporig, grob, geschmeidig. Durchlässig, trocken, flach. Oder, oder, oder. Es wird recht schnell deutlich, welche Schwierigkeiten sich bei dem Versuch ergeben, etwas so Komplexes und Auratisches wie Wein beschreiben zu wollen. Intellektualisiertes Weinvokabular ist manchen wichtig und manchen nicht so sehr. Doch dieser ernst gemeinte Impuls, das außerhalb der Sprache Liegende mit bekannten verbalen Mitteln dingfest machen und treffend kommunizieren zu wollen, dürfte wohl alles Kulinarische begleiten.

Beim Übersetzen sinnlicher Eindrücke in Text verändert sich etwas. Die Intensität der Eindrücke, die Komplexität des Erlebens, die Dauer des Genusses (oder des Gegenteils) überträgt sich in den Reichtum, die Vielschichtigkeit und die Zeitlichtkeit der Sprache. Und auch die Sprache selbst kann dann schmecken, duften, stinken, satt machen, Übelkeit erregen. Es entsteht etwas vom beschriebenen Produkt Entkoppeltes, was gleichsam an seinem Tropf hängt und von dem Leser aber immer getrennt erlebt werden muss. Die texturen des Essens dieser Ausgabe sind solche Gewebe, sind Viel-Sinne, die in ihrer Indirektheit eigene Daseinsformen annehmen und nun erschnuppert, verkostet, genossen und gut und gründlich verdaut werden wollen. Immer steht aber auch das ausdrückliche Angebot des eigenen sinnlich-kulinarischen Nachvollzugs aller Arten im Vordergrund – kritisch, begeistert, ganz in Ruhe oder „schnell-schnell“.

In texturen Nr.1 über „Wohnen“ wurde gezeigt, dass Wohnen und Einrichten bei allen beobachtbaren Stilwechseln der letzten Jahrzehnte im Grunde recht beharrlich bleiben und einen strukturkonservativen Charakter besitzen. Das gilt sowohl für die Bedarfsseite als auch für die Angebotsseite, die auch bei Neubauten wenig von den geläufigen Grundrissen abrückt. Das zivilisationsgeschichtlich ältere „Essen“ – Menschen ernährten sich ja bereits, bevor sie das Wohnen entwickelt haben – scheint in den letzten Jahren dagegen weniger wandlungsresistent wie das „Wohnen“. Selbst das Essverhalten der Deutschen, das unter besonders ungünstigen Bedingungen einer Brei-Kartoffel-Geschmacksindifferenz-Kultur – man erinnere sich an die jahrelangen Spottkolumnen des in diesem Jahr verstorbenen Gastrokritikers Wolfram Siebeck – sich eine ausdifferenzierte, sprich: variantenreiche, geschmackskompetente und ernährungsbewusste Form des Essens und Trinkens erst erarbeiten musste, selbst also dieses deutsche Essverhalten bewegt sich im Augenblick doch merklich, nicht zuletzt in der Folge von Globalisierungs- und Migrationstendenzen. Nicht nur in der Spitzengastronomie, sondern in der Alltagsküche der Verbraucher, im Angebot kleiner Lokale, auf den Märkten, im Biogesegment – leider kaum im monokulturellen und wenig phantasievollen Auftritt deutscher Supermärkte. Diese Entwicklung ist in kulturanthropologischer Hinsicht keineswegs selbstverständlich und wird auch im wissenschaftlichen Diskurs sowie in branchennahen Publikationen, aber ebenso in der überregionalen Tagespresse kommentierend und bejahend begleitet. Eines von vielen Beispielen: in der Rubrik „Stil“ berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 6./7. August 2016, dass im kulinarisch noch vor gut zehn Jahren recht diasporahaften Berlin eine Verschiebung und Erneuerung des Sonntags- und Frühstücksbrunch stattgefunden hat: Weg von den neunziger Jahren, weg davon, in einem „Café mit plüschigem Siebziger-Retro-Look zum Fixpreis Brunch zu schaufeln, nach der Devise Teller voll: schwitzender Farbstoff-Emmentaler, überzuckerter H-Milch-Grießbrei, geeiste Butterröllchen, alles auf meterlangen Anrichten zu jeder Jahreszeit üppig mit Erdbeeren, Kiwis und Physalis garniert, [… und] riesigem Haufen Industrie-Rührei, in dem schon Haare stecken“ zu nun übersichtlichen Portionen mit „regionalem Rhabarber“, „richtig gutem Supersauerkraut“, mit Saisonprodukten und manchmal „statt Kaffee und Tee“ auch Bier und Whisky oder ein „Beyoncé-Limonade-Wodka“ (Kedves 2016: 57) im Angebot, der nicht nur popkulturell, sondern auch kulinarisch überzeugt.

Essen und Geschmack haben sich als konstante Größen in den aktuellen Feuilletons und Magazinen, meist unter der Rubrik „Stil“, etabliert. Sie avancieren damit auch gleichzeitig zu einem neuen Differenzierungsmerkmal einer gebildeten, finanzstarken Oberschicht. Bereits die Titel können da einen Unterschied machen: „Die Poesie der Gurke“, „Die Schönheit des Bodenständigen“ oder „Die wichtigste Zutat ist Kultur“ (alle Artikel abrufbar auf zeit.de) kündigen schöngeistige Diskussionen der sozioökonomischen Relevanz von Essen und Trinken an. In dem F.A.Z.-Blog „Dollase vs. Mensa“ bespricht Gastor-Kritiker Jürgen Dollase konzentriert und elaboriert, was (angehenden) Akademikern in deutschen Mensen angeboten wird. So nimmt er zum Beispiel Königsberger Klopse auseinander und bemängelt das „komplett egalisierte Innenleben wie bei einer Leberwurst“ (siehe hierzu Dollase vs. Mensa (1) – „Der Lachs wurde hingerichtet“, abrufbar auf faz.net). Das ist: eine geschmackvolle Besprechung von vermeintlich Fadem für geneigte Leserinnen und Leser.

Und in der kulturwissenschaftlichen Literatur dominieren nicht mehr zivilisations- geschichtliche Themen wie Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven (so ein kiloschwerer Kongressband von 1997) oder semiotisch orientierte Bestseller wie Die geheime Botschaft unserer Speisen (von Helene Karmasin, 1999) den Fachdiskurs oder pro-/ contra-Debatten über Kochsendungen das populäre Auseinandersetzungsfeld rund ums Essen, sondern „Gastrosophische Modelle“ (Essen als ob nicht, 2009 herausgegeben von Dell’Agli) und kulinarische Kompetenzvermittler, die nicht mehr so normativ wie zuvor auftreten und die vor allem ernährungswissenschaftliche mit geschmacks- und genuss- wissenschaftlichen Dimensionen verbinden und dergestalt liebgewonnene Oppositionen lustvoll aufbrechen. Von den zahlreichen Berichten ganz zu schweigen, die das Format Kochbuch hinter sich lassen und als hybride Reise- und Erkundungsexkursionen wie Landschaftsberichte mit ausgesprochen lokaler Note auftreten, aber zugleich wie undogmatische Lern- und Erfahrungsbücher zu studieren sind und eine virale Wirkung entfachen können. Diese Entwicklung ist im Augenblick gekennzeichnet durch eine hohe Sinnlichkeit, so als gehorchten sie den Gesetzen von Michel Serres’ Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, aber auch durch eine Kenntnisvermittlung auf vielen Ebenen, die längst Unterweisungen über das Herstellen einer Saucen-Essenz oder über Kalorienwerte hinter sich lassen. Vielmehr geht es um das Wissen des Essens, um seine Texturen, seine Strukturen, seine basalen Kombinationen, um Röstaromen, um Stil und Geschmack, um die Spurensuche nach den lokalen Wurzeln, aber auch nach den Produktionsherkünften und den -bedingungen, um Auftritte auf dem Tisch und in der Gastronomie jenseits einer vordergründigen Inszenierungsrhetorik und -praktik sowie um den soziokulturellen Resonanzraum, den gemeinschaftliches Essen und Trinken zum Schwingen bringt. Und die Erneuerung, die in diesem so grundsätzlichen Bereich menschlicher Lebenskultivierung in letzter Zeit beobachtbar ist, wird heute von einer Generation betrieben, die als „junge Wilde“ Neues wagen, alte Traditionen wiederentdecken, neuen Geschäftsmodellen folgen, ob als Winzer, Gastronome, Bierbrauer, Frühstücksanbieter oder Chocolatiers. Getragen wird diese Bewegung möglicherweise von der Einsicht Michel Serres’, der sagt: „Die Sinne täuschen nicht“. (Serres 1998: 339) Und das bedeutet auch: essen und trinken, auch das neue Essen und Trinken, das sich um eine neue Sprache des Geschmacks bemüht, überschreiten die Grenzen der Sprache und auch der Marken und ihrer Werbung:

„Wer eines dieser Getränke zu sich nimmt, die von der Industrie produziert und sintflutartig verbreitet werden, der trinkt Ausdrücke und kann vollständig erfahren, was da durch seine Kehle rinnt. Es gleicht einer Sprache, die auf das knappe Etikett geschrieben ist. Alles, was sich in der Metall- oder Plastikdose befindet, steht auf diesem Stück Papier; alles was auf der äußerlichen Hülle mitgeteilt wird, befindet sich in der Hülle. Diese beiden Sätze lassen keinen Rest: Die Marke verkündet eine endliche Folge, die ausgesprochen kurz ist: Trinken analysiert wie Lesen; das Geschriebene und das Gefäß enthalten dieselbe Folge von Worten oder Stoffen: Erfrischungsformel, abstraktes Gebräu, Pharmazie. […] Das Gesetz zwingt sich dem geschriebenen Etikett auf, welches dazu drängt, Geschriebenes zu trinken.“ (Ebd.: 297)

Aber, so Serres weiter, der zuvor eine ganze Landkarte des Weinschmeckens kartographiert hat (ebd.: 205–227):

„Wer guten Wein trinkt, der kann nicht von Marken reden, er kann nicht vollständig angeben, was da seinen Gaumen umspült. Eine fein ziselierte Karte zeichnet sich darauf ab, ein Moiré, ohne formelhafte Worte zu ihrer Bezeichnung, ohne Sätze zu ihrer Beschreibung, ohne einen schwächlichen Wortschatz, über den alle Welt sich lustig macht, weil die Erfahrung fehlt. […] Wollte man aufschreiben, was der Wein enthält, würde die Liste um so länger, je mehr man den Wein schätzt, das Papier bedeckte die Flasche, den Keller, den Weinberg, die Oberfläche der Landschaft wie eine punktgetreue Karte.“

So die sinnenphilosophische Seite des Essens und Trinkens, die vornehmlich auf der Mikroebene erlebbar ist, die aber zugleich sich zur Landschaftskunde, zur Zeitreise kontextualisiert, wie bei Serres skizziert. Will man eine Makroebene erklimmen, so eignet sich die Tätigkeit des Essens durchaus dazu, ihr entlang ein großes Spektrum relevanter Kulturtheorien aufzuspannen, wie dies Iris Därmann in verschiedenen Publikationen versucht hat. In ihrer Übersicht Kulturtheorien zur Einführung (Hamburg 2013) schreitet sie beispielsweise nicht den üblichen Katalog an Theorienamen ab, sondern synthetisiert die Theorien unter zentralen Kulturpraktiken. Den Anfang machen dabei „Küche und Tischgemeinschaft“, das Ende markieren „Die Dinge zwischen uns“, die aber beim Essen und Trinken ebenfalls materielle Mitakteure sind, nicht nur die Speisen, die Köche/innen und wir Verzehrer und Genießer. Die kulturtheoretischen Gewährsleute auf dieser Makroebene kulinarischer Ethnologie und Zivilisationsgeschichte heißen dann Claude Lévi-Strauss (Kleine Abhandlung in kulinarischer Ethnologie), Georg Simmel (Soziologie der Mahlzeit) und Norbert Elias (Prozeß der Zivilisation).

Apostrophisch und berlinerisch kommentiert Dominikus Mucha die Street-Food-Kultur Bei Konnopke’s in Charlottenburg, und Alexander Meurer versackt genußvoll im Slackertum in und um Cem’s Bäckerei in Neukölln. Karin Deckner beschreibt wirklich eine Carte Blanche in Kreuzberg, seit vielen Jahren immer wieder neu. Katja Feldmeier bezeugt in einem melancholisch-süßlichen „Als-Ob“ Dinge In einer Küche, die übrig bleiben, wenn man nicht mehr ist. Moritz Baier bringt kulinarisch-kulturelle Ansichten aus Amerika mit, von der Straße ab in den Diner und wieder raus: In-n-Out. Die Rede kam schon auf Wein. Der bekannte Weinkritiker Stuart Piggot berichtet für uns aus Japan, wie im Gesshinkyo (auch Wein) getrunken wird: nämlich buddhistisch und – wie zu erwarten – ziemlich gut.

Im zweiten Teil des Buches kommen Lehrende, Fachleute aus der Gastro-Branche, Essayistinnen und Essayisten an den Tisch. Weiter auf die japanische Spitze getrieben, eröffnet Malte Härtig Einblicke in die Kultur des Sashimi, dieser rohen Köstlichkeit, die ihre Einfachheit nur durch puren Aufwand, Kennerschaft und Hingabe erreichen kann. Mirus Fitzner bleibt gleich in Asien, reist literarisch nach China, und erweitert das schockierend Kulinarische vom Meerestier auf den Menschen: In China essen sie Kinder; wirklich? Wieder in Europa filetiert Miriam Feuls dann punktuell: im Beitrag Avantgarde Essen – ein dekonstruiertes Manifest bespricht sie Auffassungen vom „Ganz weit vorn“ in zeitgenössischen Haute Cuisines. Birger Priddat formuliert einen deutlichen Aufschrei gegen den deutschen „Alltagsfraß“ und fragt provokant: Wozu Geschmack? Wie gutes Essen, von sogar bis erst recht, gehen kann, zeigt schließlich Aida Baghernejad mit ihrem Bericht aus London. Kurz und knapp und wie der Titel sagt: Yum. Die Herausgeber finden in ihrem Text erzählte Beispiele, in denen Praktiken, Schauplätze und Kontexte des Essens eine entscheidende Szenerie darstellen. Franz Liebl begibt sich mit dem kühlen Blick des strategischen Marketings in die kühne Sterneküche der Welt: mit Avant-Goût steht das Programmatische nicht wie üblicherweise am Anfang, sondern schließt mit einem Beitrag über das kulinarische Erleben.

Referenzen

  • Därmann, Iris (2013): Kulturtheorien zur Einführung. Hamburg.
  • Dell’Agli, Daniele (Hg.) (2009): Essen als ob nicht. Gastrosophische Modelle. Frankfurt/Main.
  • Karmasin, Helene (1999): Die geheime Botschaft unserer Speisen. Was Essen über uns aussagt. München.
  • Kedves, Jan (2016): Sonntagsmittags, Berlin. Früher schlug man sich beim Brunch den Bauch voll, heute besinnt man sich auf Verzicht und Nachhaltigkeit. Was ist passiert? Eine gastrosophische Spurensuche. In: Süddeutsche Zeitung, #181, 6.8., S. 57.
  • Serres, Michel (1998, orig. 1985): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/Main.
  • Teuteberg, Hans Jürgen et al. (Hg.) (1997): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven. Berlin.

Auszug aus dem Band, S. 9-26

texturen Nr. 3—Essen

Mit Beiträgen von: Dominikus Mucha, Alexander Meurer, Karin Deckner, Katja Feldmeier, Moritz Baier, Stuart Pigott, Malte Härtig, Mirus Fitzner, Miriam Feuls, Birger Priddat, Aida Baghernejad, Thomas Düllo, Konstantin Daniel Haensch, Elena Dellasega und Franz Liebl

Herausgeber: Thomas Düllo, Konstantin Daniel Haensch, Elena Dellasega

Verlag der Universität der Künste Berlin

ISBN: 978-3-89462-278-7

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